Im Juli 2021 haben wir an alle Parteien des Berliner Senats unsere Wahlprüfsteine geschickt, mit der Bitte, diese zu beantworten und uns als Wahlentscheidungshilfe zur Verfügung zu stellen.
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Fragen
Die Antworten der Parteien
WOFÜR WIR STEHEN
Berlin benötigt dringend bezahlbaren Wohnraum. Doch statt nachhaltig zu planen, wird derzeit nachverdichtet und versiegelt, wo bisher Grünoasen Frischluft für die Großstadt erzeugen und das Stadtklima sichern. Die zunehmende Versiegelung verschärft die negativen Auswirkungen des Klimawandels, sorgt für rasant steigende Temperaturen in der Stadt und bedroht die Gesundheit der Bevölkerung .
Bestehende Siedlungen und Wohnanlagen sind mit sinnvoller, bedarfsgerechter Infrastruktur (z.B. Kitas, Schulen,
Sport- und Spielplätzen) und umliegenden Grün- und Sozialflächen geplant worden. Statt Nachverdichtung und Versiegelung benötigt Berlin eine nachhaltige Stadtentwicklung, bei der Stadtquartiere und Grün- und Sozialflächen unter Berücksichtigung des Klimawandels und der Pandemie geplant werden, Frischluftschneisen in alle Kieze gelegt und Flächen für weitere Stadtbäume entsiegelt werden.
Unser parteiunabhängiges “Berliner Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung” besteht aus derzeit 17 Initiativen. In
stadtentwicklungspolitischen Diskursen vertreten wir die Stimme der BewohnerInnen und
MieterInnen. Gemeinsam setzen wir uns ein für eine klimagerechte, nachhaltige und soziale Stadtentwicklung, insbesondere für den Erhalt von Grün- und Sozialflächen, den Schutz Berliner Bäume, für gesunde Lebensbedingungen, eine bedarfsgerechte Infrastruktur, Artenvielfalt, Entsiegelung, Umbau statt Abriss und echte Bürgerbeteiligung bei allen Projekten. Zur Erreichung dieser Ziele fordern wir die notwendigen Änderungen der Berliner Bau- und Planungsvorschriften, ebenso wie eine konsequente Steuerung seitens der Bezirke vor Ort.
UNSERE FRAGEN
Mit unseren Wahlprüfsteinen zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 möchten wir die parteipolitischen Einstellungen zu unseren Themenschwerpunkten in Erfahrung bringen und der Öffentlichkeit als Orientierungsmarke für Wahlentscheidungen zugänglich machen. Wir bitten um Rucksendung Ihrer Antworten als PDF oder Word-Datei bis zum 8. August 2021 an das Berliner Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung unter folgender E-Mail-Adresse: team{ät}nachhaltigestadtentwicklung.berlin
KLIMAFREUNDLICHE STADTENTWICKLUNG
Berlins Stadtentwicklung steht auch aufgrund des jüngst gefassten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur Nachbesserung im Klimaschutz vor großen Herausforderungen. Planung und Vollzug müssen so angepasst werden, dass sie ihren definierten Beitrag zum Erreichen des Klimaziels leisten.
VERSORGUNG MIT GRÜNINFRASTRUKTUR
In Zeiten des Klimawandels ist eine umfangreiche wohnungsnahe Grünversorgung für alle StadtbewohnerInnen unersetzlich (Klimafolgenmonitoring Berlin, Sachstandsbericht 2016, S. 25).
In den vergangenen Jahren wurde die erforderliche Versorgung mit Grüninfrastruktur jedoch stiefkindlich behandelt, während Neubauzahlen stark im Fokus der Berliner Politik, Verwaltung und der Öffentlichkeit standen. Auch in Bereichen mit festgestellter Unterversorgung an wohnungsnahen Grünflächen wird durch eine überwiegende Genehmigungspraxis nach § 34 Baugesetzbuch (BauGB) – einfaches Baugenehmigungsverfahren – unkontrollierte Nachverdichtung bewilligt, ohne dass parallel die erforderliche Grünentwicklung geschieht.
Die Grünplanung darf nicht länger der Bauplanung untergeordnet bleiben.
BAUMSCHUTZ
Die Berliner Bäume sind zunehmend in Gefahr. Sie leiden unter schlechten Standortbedingungen und der anhaltenden Trockenheit. Bei Bauvorhaben haben die Naturschutzbehörden kaum Möglichkeiten, sich für den Erhalt wertvoller Bäume einzusetzen. Nur unwesentlich störende Bäume können überhaupt geschützt werden, alle anderen Fällungen müssen genehmigt werden. In der Folge nimmt der Baumbestand in der Stadt seit Jahren ab, womit zugleich die Zerstörung des Lebensraums für Insekten, Vögel und andere Tiere voranschreitet.
BAUWESEN/RESSOURCENSCHONUNG
Das Bauwesen verursacht lt. Umweltbundesamt mit rund 215 Mio. t jährlich den größten Abfallstrom in Deutschland und verantwortet mehr als die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens. Nur 7 % dieses Abfalls werden in Gebäuden recycliert. Der Rest wird im Straßenbau als Schotter verwendet oder deponiert, was jährlich ca. 100 Mio. km Lkw-Fahrten verursacht. Selbst scheinbar unendliche Ressourcen wie Sand (am Meer) werden bereits so knapp, dass sie zunehmend durch kriminelle Strukturen illegal abgebaut werden. Für eine Branche mit ca. 870.000 Beschäftigten, die ca. 5,6 % zum BIP beiträgt, sind das beschämende Fakten (Angaben aus DBT Drs. 19/23152).
Am 10. Dezember 2019 hat der Berliner Senat auf Vorlage von Klimaschutzsenatorin Regine Günther als erstes Bundesland die Klimanotlage anerkannt. Berlin verfolgt eine Zero-waste-Strategie und fordert in der Verwaltungsvorschrift Beschaffung und Umwelt (VwVBU) eine Lebenszyklusbetrachtung.
Dennoch werden auch in Berlin unverändert zahlreiche Bauten abgerissen, die oftmals nur wenige Jahrzehnte alt sind. Aktuell soll z.B. nach dem Willen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport in Berlin das erst 1987 errichtete Cantian-Stadion abgerissen werden. An der Stelle eines bestehenden Stadions mit 20.000 Sitzplätzen soll ein Stadion-Neubau mit ebenfalls 20.000 Sitzplätzen errichtet werden.
Ein zukunftsweisendes Gegenbeispiel stellt die diesjährige Vergabe des international renommierten Pritzer-Preises an das französische Architekturbüro Lacaton Vassal dar. Dieses Büro ist v.a. für seine minimal-invasiven, bestandserhaltenden Um- und Weiterbauten weltbekannt. Diese Auszeichnung zeigt einen deutlichen Paradigmenwechsel auf, wie er auch im Manifest „Das Haus der Erde“ des Bundes Deutscher Architekten zum Ausdruck kommt.
NACHVERDICHTUNG/MIKROKLIMA
Nahezu alle in Berlin laufenden bzw. geplanten Baumaßnahmen zur Verdichtung von bestehenden Wohnkomplexen und -gebieten gehen einher mit einer massiven Reduzierung von Grün- und Freiflächen und sogar Spielplätzen sowie der Vernichtung von wertvollem altem Baumbestand.
Die Anzahl der tropischen Nächte in Berlin hat sich laut Statistik in den letzten 10 Jahren vervierfacht. Viele ehemals bestehende Luftschneisen laut Klimaatlas Berlin 2015 sind zwischenzeitlich durch Neubauten schon zerstört bzw. werden zerstört. Nachverdichtungsvorhaben wirken sich negativ auf das Mikroklima vor Ort sowie auf das gesamte Klima in Berlin aus und erhöhen die bioklimatischen Belastungen der BewohnerInnen.
Unserer Meinung nach darf Stadtentwicklung in Zeiten des Klimawandels nicht mehr nach dem unreflektierten Schema „Bauen! Bauen! Bauen!“ betrieben werden. Auch in der Wohnungspolitik müssen zukunftsfähige Konzepte wie beispielsweise die Aktivierung von Leerständen durch Gebäudeumnutzungen (Büros, Fabriken, Shoppingcenter) bei gleichzeitiger Herstellung zusätzlicher Grünanlagen und dem Schutz vorhandener Grünflächen umgesetzt werden.
GESUNDHEIT
„Städte sind im Vergleich zum Umland oft stärker belastet durch Überwärmung, hohe Konzentration von Feinstaub und anderen Luftschadstoffen sowie durch Lärm. […] Der Klimawandel wird diese Belastungen erheblich verstärken. […] Solche Belastungsfaktoren führen […] zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zu erhöhten Krankheits- und Sterblichkeitsraten. […] Über ihre regulierenden Ökosystemleistungen hilft die Stadtnatur, die geschilderten Belastungen zu reduzieren. So binden Bäume und andere Vegetationselemente Feinstoff und weitere Luftschadstoffe […] und mindern über Beschattung und Verdunstungskühle die Hitzebelastung.“ (S. 25) „Stadtnatur vermindert nicht nur Umweltbelastungen, sondern begünstigt auch unmittelbar die physische und psychische Gesundheit der Menschen.“ (S. 26) (https://www.ufz.de/export/data/global/190506_TEEB_DE_Broschuere_KF_Bericht3_Stadt_BF.pdf)
Das vergangene Jahr war in Berlin das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Etwa 490 Menschen sind 2020 an den Folgen der großen Hitzewelle in Berlin gestorben. Das geht aus Berechnungen des Robert-Koch-Instituts hervor. „Als Folge des Klimawandels treten in Deutschland seit etwa der Jahrtausendwende Hitzewellen in einer ungewöhnlichen Häufigkeit auf“, schreibt das Institut in seinem Bericht. „Starke und/oder längere Hitzewellen führen dabei regelmäßig zu einer erhöhten Mortalität, besonders in den älteren Altersgruppen.“ (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2019/Ausgaben/23_19.pdf?__blob=publicationFile)
Dringender Handlungsbedarf liegt damit auf der Hand. Bereits 2011 arbeitete der Stadtentwicklungsplan Klima die Anpassung Berlins an die Folgen des Klimawandels als zentrale Aufgabe der Stadtentwicklung heraus. (https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/stadtentwicklungsplanung/download/klima/step_klima_broschuere.pdf , S. 24 f. )
BÜRGERINNENBETEILIGUNG
Die grundlegende Verbesserung der Beteiligung der BürgerInnen an der Stadtentwicklung ist für die Politik eine große Aufgabe. Es bedarf hier zusätzlicher landesrechtlicher Regelungen, um die Interessen und den Sachverstand von Planungsbetroffenen in alle relevanten Bau- und Planungsprozesse einzubeziehen. Beispielsweise muss endlich auch im Baugenehmigungsverfahren eine verbindliche BürgerInnenbeteiligung eingeführt werden. In den Bauplanungsverfahren muss aus der bestehenden Mitwirkung die Mitbestimmung von BürgerInnen werden.
BAURECHT/FLÄCHENPLANUNG
Der Flächennutzungsplan (FNP) 2015, also die vorbereitende Bauleitplanung, der Stadtentwicklungsplan Wohnen (StEP) 2030 und die Bauordnung für Berlin (BauO Bln) sind die Grundlagen aller Arten des Planens und Genehmigens von Verdichtungen. Die neuen Anforderungen an die Stadtentwicklung, die sich aus Klimawandel und Pandemie ergeben, müssen schnellstmöglich in die einschlägigen Gesetze und Planungsgrundlagen aufgenommen werden. In den Fokus gehören eine weniger verdichtete Bauweise und die Berücksichtigung des gestiegenen Bedarfs an Grün- und Sozialflächen.